Geduldet, verdrängt und beschönigt
Die Geschichte der Sklaverei ist ein schmerzvolles Kapitel in der islamischen Welt
Wo befand sich der Sklavenmarkt in der Altstadt von Marrakesch? Wann wurden hier die letzten Sklaven gehandelt? Welche Familien und Dynastien waren die Nutzniesser dieses Menschenhandels? Und gibt es vielleicht heute noch sklavereiähnliche Verhältnisse in der «Perle des Südens»? Solche Fragen müssten sich Reisende in arabischen Ländern eigentlich stellen; nicht nur in Marrakesch, sondern auch in Ghadamès, Kairo und anderen ehemaligen Zentren des Sklavenhandels. Doch Touristen, die diese Länder heutzutage bereisen, werden, falls überhaupt, nur beiläufig und anekdotenhaft mit dem Faktum der Sklaverei konfrontiert; und der Umstand, dass ein Teil der Sklavinnen und Sklaven im Harem landeten, scheint das Ganze nicht nur faszinierender, sondern auch erträglicher zu machen. Gedenkstätten in Erinnerung an den weit über tausend Jahre dauernden Handel, der Millionen von Menschen versklavt, erniedrigt und auf das Niveau von Nutztieren reduziert hat, sucht man selbst in den einstigen Zentren des arabischen Sklavenhandels vergeblich, und auch in den Lehrmitteln der Schulen in der islamischen Welt finden sich kaum Hinweise auf dieses düstere Kapitel.
Bis vor kurzem galt im Westen als ausgemacht, dass das Phänomen der Sklaverei in erster Linie die europäischen Länder sowie die Vereinigten Staaten betreffe. In jüngster Zeit wird diese Sichtweise allerdings zunehmend in Frage gestellt. Schon in den 1980er Jahren hatte der verstorbene Zürcher Historiker Albert Wirz darauf hingewiesen, dass der Sklavenhandel bereits vor der Ankunft der Europäer in Afrika von arabisch-muslimischen Händlern betrieben wurde und dass diese bei der Beschaffung von Sklaven für die Bedürfnisse der Europäer eine zentrale Rolle gespielt hatten. Zu ähnlichen Schlüssen kamen auch andere Autoren. Die meisten ihrer Publikationen sind jedoch nie von einem breiteren Publikum zur Kenntnis genommen worden.
Neue Forschungsarbeiten
In letzter Zeit beginnt sich aber in dieser Hinsicht langsam eine andere Sichtweise durchzusetzen. Zum einen sind Formen von sklavereiähnlichen Zuständen in mehreren islamischen Ländern mittlerweile derart solide dokumentiert, dass sich das Problem nicht mehr mit dem Hinweis auf eine zu vage Quellenlage von der Hand weisen lässt. Zum andern sind in jüngster Zeit verschiedene Publikationen zum Thema erschienen. Allen voran ist hier das Werk des algerisch-französischen Anthropologen und Psychoanalytikers Malek Chebel zu erwähnen, das unter dem Titel «L'esclavage en terre d'Islam» Ende 2007 veröffentlicht worden ist. Es handelt sich um die erste Studie, die auf umfassende Weise die Sklaverei im islamischen Raum durchleuchtet. Chebel, der mit zahlreichen Werken international Anerkennung gefunden hat, bekennt sich klar als Humanist, und als solchem ist ihm die Sklaverei ein Greuel. Dennoch hat sich der Autor einen nüchternen Blick auf dieses schwierige Thema bewahrt und hat der Versuchung widerstanden, ein Pamphlet gegen die Sklaverei zu publizieren.
Dass Chebel aus dem Maghreb stammt und selbst Muslim ist, dürfte in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielen; denn indem er hartnäckig auf der Basis der islamischen Schriften gegen die Praxis der Sklaverei argumentiert, entzieht er dem (im Raum stehenden) Vorwurf der Islamfeindlichkeit von Anfang an den Boden. «Gott hat nichts geschaffen, was er mehr liebt als die Befreiung von Sklaven, und er hasst nichts mehr als die Verstossung», lautet einer der Hadithe, der überlieferten Aussagen des Propheten, auf den sich Chebel abstützt.
In der Tat ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein Teil der Autoren, die zu diesem Thema publiziert haben, aus ihrer prinzipiell islamkritischen Haltung kein Hehl machen. Dasselbe gilt von einer Reihe von Hilfswerken, die sich um den «Freikauf» von Sklaven bemühen; in ihrer Mehrheit sind sie einem evangelikal-christlichen Umfeld zuzuordnen.
Verdrängung und Abwehr
Die Recherche zum Thema Sklaverei, in die Chebel nach eigenen Worten eher zufällig hineingeraten war, erwies sich schon bald als «schwierigste Aufgabe» seines Lebens. In der arabischen Welt sei das Thema «Sklaverei» stark tabuisiert, und es gebe zurzeit weder ein Bewusstsein für die Bedeutung dieses Phänomens noch seriöse wissenschaftliche Studien. Umso heftiger, so berichtet Chebel, waren die Ermahnungen und Drohungen aller Art, mit denen er im Lauf seiner mehrere Monate dauernden Recherche konfrontiert wurde. Doch insbesondere die Warnung, eine solche Studie würde nur den Feinden des Islam Munition liefern, schlug Chebel dabei in den Wind und setzte sich schlicht zum Ziel, «die ganze Wahrheit über die Sklaverei» festzuhalten, ungeachtet möglicher Folgen. Dies ist ihm in beachtlichem Ausmass gelungen.
Chebel betrieb dabei eine doppelte Recherche. Zum einen durchsuchte er schriftliche Quellen aus der gesamten islamischen Tradition und Geschichte auf den Aspekt der Sklaverei. Dabei gelang es ihm, praktische Anleitungen für die Sklavenhaltung und andere Dokumente ausfindig zu machen, die in erschreckender Weise belegen, wie alltäglich, ja «normal» die Versklavung von Menschen in der islamischen Welt während Jahrhunderten gewesen war. Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass der Autor auch ein paar «Lichtblicke» zutage förderte, so etwa ein Pamphlet eines marokkanischen Abolitionisten. Zum andern unternahm Chebel eine umfassende Recherche über die heutige Praxis der Sklavenhaltung, die ihn in fast alle islamischen Länder führte. In Interviews mit Betroffenen, in Gesprächen mit Juristen, Theologen, Politikern und Menschenrechtsaktivisten versuchte der Autor, möglichst viel aus erster Hand über dieses Phänomen zu erfahren. Das Resultat ist eine beeindruckende Gesamtschau der Theorie und Praxis der Sklaverei in der islamischen Welt. Dabei wirken die «Länderberichte», die Chebel erstellt hat, trotz der offen bekundeten Parteinahme für die Entrechteten und seinem tiefen humanistischen Engagement vorsichtig, nüchtern und keineswegs dramatisierend; kurz: in hohem Mass glaubwürdig. Allein schon der Umstand, dass der Autor bis anhin von keinem einzigen islamischen Staat gerichtlich belangt worden ist, spricht für die Ernsthaftigkeit seiner Analyse.
Freilassung als «gottgefälliges Werk»
Wie aber steht denn der Islam zur Versklavung von Menschen? Hatte der Prophet wirklich die Absicht, die zu seiner Zeit weit verbreitete Praxis der Sklaverei schrittweise auszurotten, oder ging es ihm vielmehr darum, die stossendsten und entwürdigendsten Formen zu mildern? Chebel hält ausdrücklich fest, dass die koranischen Textstellen, in der von Sklaverei die Rede ist, der Tendenz nach erstaunlich «sklavenfreundlich» sind. So wird etwa die Freilassung von Sklaven als «gottgefälliges Werk» ausdrücklich empfohlen, die Versklavung von Muslimen – und im Prinzip auch von Angehörigen der anderen Buchreligionen – hingegen klar untersagt.
Dennoch weist die Haltung des Propheten zum Phänomen der Sklaverei nach Auffassung von Chebel eine beträchtliche Ambivalenz auf. Denn da sind auch Textstellen, welche eindeutig auf eine gottgegebene Hierarchie zwischen «Herr» und «Knecht» hinweisen, und die Versklavung von Nichtmuslimen gilt im Rahmen von Kriegen und Razzien ausdrücklich als legitim. Schwer wiegt aber vor allem der Umstand, dass sich die eher «sklavenfreundliche» Position des Propheten in den darauffolgenden Jahrhunderten nie wirklich durchsetzen konnte. Die Gründe sieht Chebel in erster Linie darin, dass die Befreiung von Sklaven «kein starkes Leitmotiv» des Korans und auch keine Verpflichtung für die Gläubigen darstellte. Vielmehr blieb es allein der persönlichen Initiative und dem guten Willen eines Sklavenhalters überlassen, ein «gottgefälliges Werk» zu unternehmen.
Die islamische Rechtsprechung sei bezüglich der Haltung von Sklaven stets «unklar, mehrdeutig und teilweise widersprüchlich» gewesen, schreibt Chebel, und sie habe in der Praxis «absolutistische Potentaten, reiche Händler und Feudalherren aller Kategorien» nie davon abgehalten, sich mit so viel Sklaven zu umgeben, wie sie es wünschten. «Auf solche Weise ist die Sklaverei von Dynastie zu Dynastie zu einem muslimischen Faktum geworden», hält Chebel fest. Zwar hätten die religiösen Autoritäten in der Geschichte des Islam ab und zu gewisse Vorbehalte gegenüber der gängigen Praxis der Sklaverei geäussert, doch seien sie damit auf taube Ohren gestossen.
Das Fazit ist klar: Die in den Anfängen des Islam durchaus spürbare emanzipatorische Tendenz hat sich in den folgenden Jahrhunderten nie durchsetzen können, sondern einer weitgehenden Akzeptanz der Sklaverei Platz gemacht. Es sei eines der «ernüchterndsten und traurigsten Resultate» seiner Recherche gewesen, dass selbst herausragende islamische Gelehrte sich dazu hergegeben hätten, die Sklaverei zu kodifizieren. «Das bedeutet, dass die
Die uralte Tradition der Sklavenhaltung habe sich in den vergangenen Jahrhunderten gewissermassen auf den Islam «aufgepfropft» und auf solche Weise seine ursprüngliche, emanzipatorische Botschaft überdeckt. Ja, der Islam sei in einem gewissen Sinn «Opfer der Sklavenhaltermentalität» geworden, gibt Chebel in einem Interview zu Protokoll. Damit nimmt er offensichtlich den Islam aus der Schusslinie und lässt die Möglichkeit einer «progressiven» Lesart der heiligen Schriften offen. Nur andeutungsweise wirft er die Frage auf, ob die «Unterwerfung» unter den göttlichen Willen – dies eine der möglichen Übersetzungen des Wortes Islam – nicht auch als «Vorspiel» zu einer ganz und gar weltlichen Unterwerfung und Unterordnung verstanden werden könnte, auf die sich die Sklavenhalter nur allzu gerne abgestützt haben.
Genau so sehen es konservative islamische Theologen bis heute; das Gefälle zwischen Herr und Sklave ist für sie Teil einer göttlichen Ordnung. Ein prominenter saudischer Islamgelehrter namens Scheich Saleh al-Fazwan habe sich noch vor wenigen Jahren öffentlich gegen die Abschaffung der Sklaverei ausgesprochen, berichtet etwa der amerikanische Journalist und Islamkritiker Daniel Pipes. Sklaverei sei «Teil des Islam wie auch des Jihad» und werde es auch bleiben, solange der Islam existiere, soll der Gelehrte, welcher dem höchsten religiösen Gremium Saudiarabiens angehört, verkündet haben. Auch andere – selbsternannte oder stattlich anerkannte – religiöse Autoritäten haben sich in diesem Sinn geäussert.
Sklaverei in Mauretanien
Dass die Debatte zum Thema Sklaverei keineswegs akademischer Natur ist, zeigt sich in aller Schärfe in Mauretanien. Auf dem Papier war die Sklaverei in diesem westafrikanischen Land im 20. Jahrhundert dreimal abgeschafft worden, ohne dass sich in der Praxis viel verändert hätte: 1905 per französisches Kolonialdekret, 1960 mit der Erlangung der Unabhängigkeit und schliesslich zum dritten Mal im Jahr 1980. 23 Jahre später, im Jahr 2003, wurde ein Gesetz erlassen, das den Menschenhandel in aller Form unter Strafe stellte, das Wort Sklaverei aber tunlichst vermied. Doch damit nicht genug: Vor wenig mehr als einem Jahr, im September 2007, verabschiedete das mauretanische Parlament schliesslich ein weiteres Gesetz zur Ächtung der Sklaverei und beschloss parallel dazu eine Reihe begleitender Massnahmen.
Hinter diesem Gesetzeserlass steht in erster Linie eine Nichtregierungsorganisation namens «SOS Esclave», die seit Jahren für die Abschaffung der Sklaverei kämpft und versucht, international Druck zu erzeugen. Die 1995 von Nachkommen ehemaliger Sklaven gegründete Organisation wurde schon drei Jahre später per Gerichtsentscheid verboten, und gleichzeitig wurden ihre führenden Köpfe zu hohen Bussen und Gefängnisstrafen verurteilt. Erst 2005 erhielt «SOS Esclave» eine legale Existenz, welche sie sogleich dazu nutzte, eine Reihe von Musterprozessen gegen faktische Sklavenhalter zu führen.
Für Boubacar Messaoud, den Mitbegründer und Präsidenten von «SOS Esclave», steht die Daseinsberechtigung seiner Organisation ausser Frage. «In Mauretanien existiert die Sklaverei weiterhin, sogar in den traditionellen, ja archaischen Formen, in der eine Person direkt von ihrem Herrn abhängt», erklärt Messaoud gegenüber der NZZ. Konkret bedeute dies, dass ein Mensch wie ein Gut vererbt werde, ohne Einwilligung seines Herrn nicht heiraten und de facto auch kein Sorgerecht über seine eigenen Kinder ausüben könne. Daneben konstatiert der Menschenrechtsaktivist das Fortbestehen zahlreicher gravierender Abhängigkeitsverhältnisse, die sich nur unwesentlich von Sklaverei im engeren Wortsinn unterschieden.
Das neue Gesetz aus dem Jahr 2007 hat nach Auffassung von Messaoud tatsächlich zu einer rechtlichen Besserstellung der Sklaven und «Freigelassenen» geführt. Die praktische Umsetzung finde aber nur sehr halbherzig statt, und die geplante Sensibilisierungskampagne sei auf die grossen Städte beschränkt geblieben. Damit habe sie die Betroffenen, die vor allem auf dem Land lebten, überhaupt nicht erreicht, moniert Messaoud. Gleichzeitig stehe seine Organisation unter erheblichem Druck, da ihr von staatlicher Seite vorgeworfen werde, ihre Aktivitäten schadeten dem Image des Landes. Fazit: Das Thema Sklaverei hat – zumindest im Fall Mauretaniens – nichts von seiner Brisanz verloren. Kaum besser dürfte die Lage in einer Reihe anderer islamischer Länder sein, so etwa im Sudan.
Aufrechnen führt nicht weiter
Gemäss den Recherchen von Chebel und weiteren Studien existieren auch in vielen anderen Ländern der islamischen Welt sowohl traditionelle Formen von Sklaverei wie auch moderne Formen von Leibeigenschaft und brutaler Ausbeutung – etwa von Hausmädchen oder Bauarbeitern. Sklaverei ist deshalb ohne Zweifel ein soziales Problem mit grosser Sprengkraft, das dringend einer Lösung bedarf. Doch sowohl Malek Chebel wie auch verschiedene Menschenrechtsorganisationen fordern mit Nachdruck dazu auf, das heikle Thema keinesfalls ideologisch anzugehen und die «orientalische» Sklaverei gegen die einst von westlichen Staaten betriebene oder gegen heutige Formen von «Sklaverei» in Industrieländern aufzurechnen. Entscheidend sei vielmehr, alle Formen von Zwangsarbeit, sexueller Ausbeutung und Menschenhandel radikal zu bekämpfen, wo auch immer sie stattfänden.
Kaum zu bestreiten ist allerdings der Umstand, dass sich der Impuls zur Abschaffung der Sklaverei aus der europäischen Kultur heraus entwickelt hat und keineswegs aus dem islamischen Raum; manche islamkritische Autoren heben denn auch das Verbot der Sklavenhaltung als eine der grössten Leistungen der westlichen Kultur hervor. Jenseits der heutigen Kulturkonflikte zwischen muslimischer und westlicher Welt scheint indes klar, dass einzig eine universalistische Haltung, welche den grundlegenden Menschenrechten eine uneingeschränkte Geltung beimisst, ermöglicht, die Versklavung von Menschen als Verbrechen zu ächten; als Verbrechen an der ganzen Menschheit.
Literaturhinweise: Malek Chebel: L'Esclavage en Terre d'Islam. Editions Fayard, Paris 2007. 496 S., € 24.–. Albert Wirz: Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem. Edition Suhrkamp, Neue Historische Bibliothek. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1984.
Beat Stauffer lebt als freier Publizist in Basel. Sein Schwerpunktgebiet sind die islamische Welt und insbesondere der Maghreb.
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