Georgien und Russland
Interessen? Wir?
Von Lorenz Jäger
16. August 2008
Es geht, wenn man diesen Intellektuellen glauben darf, um Menschenrechte, um Demokratie, um die Zukunft eines freien Europa. Um nichts anderes. Nicht um jene Pipelines, die das Öl vom Kaspischen Meer an Iran vorbeiführen, nicht um eine strategische Einkreisung Russlands durch mehr oder weniger offenes Einsickern der Nato in die Anrainerstaaten. André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy entdecken auch diesmal wieder die Humanität genau dann, wenn amerikanische Interessen berührt sind. Nur: von diesen reden sie nicht.
Georgien hat mit der Gewalt in Südossetien begonnen? Allein die Frage sei „obsolet“, meinen die beiden Philosophen. Am Donnerstag veröffentlichten sie in der Zeitung „Libération“ unter dem Titel „SOS Georgien? SOS Europa!“ ein Manifest in dem von ihnen gewohnten alarmistischen Ton: Gegen jede einigermaßen vernünftige Diplomatie wird das Gespenst des „früheren und heutigen Faschismus“ in Anschlag gebracht. Ja, die Diplomaten nennen sie, eine groteske Nebenfigur von Proust zitierend, „unsere Norpois“, mit anderen Worten: historisch naive Versöhnler.
Ein Wendepunkt
In einem muss man den Autoren recht geben: Ein Wendepunkt der russischen Politik ist erreicht. Das riskante Abenteuer des Präsidenten Saakaschwili, mit Gewalt in Südossetien Fakten zu schaffen, ist missglückt. Russland hat bewiesen, dass es zur Selbstbehauptung in der Region fähig ist – ob dies den Europäern nun schmeckt oder nicht. Die beiden Philosophen sehen das anders. Wenn sie von Putins „Autokratie“ reden, dann versuchen sie, die alten Ängste vor dem Zarenregiment zu schüren. Man solle Russland aus der Runde der G 8 ausschließen, fordern sie, und gleich noch aus dem Europarat. Noch einmal geht es gegen die deutsch-russische Gaspipeline – und nun ist doch noch von der materiellen Basis die Rede! –, die an Polen vorbeiführt. „Kühnheit“ sei von Europa zu verlangen und Geistesschärfe. „Sonst ist es tot.“
Die Stimmen von Glucksmann und Lévy werden in Europa gehört, sie haben, in Deutschland etwa, das Portal „Perlentaucher“ auf ihrer Seite. Russland dagegen findet bis heute unter den europäischen Köpfen von Rang kaum Fürsprecher, der „Westen“ hat sich als normatives Leitbild durchgesetzt. Zwar gibt es politische Korrespondenten und Kommentatoren, die besonnener urteilen, aber bei den Intellektuellen dominiert die blanke Russophobie. Alexander Solschenizyn ist tot, und damit der einzige, auf dessen Wort auch die westlichen Geister vielleicht noch gehört hätten – aber hatten sie nicht schon lange vor seinem Tod ausgeblendet, was von diesem großen metaphysischen Nationalisten kam? Allen voran Glucksmann, der sich um die Wirkung des „Archipel GULag“ enorme Verdienste erwarb, aber vom späten Solschenizyn abrückte. Vielleicht war Émile Cioran der Letzte, der vor fast fünfzig Jahren in seinem Essay „Russland und der Virus der Freiheit“ mit philosophischen Argumenten, die auch dem westlichen Intellektuellen zugänglich waren, um Verständnis für die östliche Großmacht warb. Man muss ihn wiederlesen, um sich in diesen Tagen nicht verdummen zu lassen.
Antirussische Affekte
Es gibt einen antirussischen Affekt in Europa, den man kennen, aber von dem man sich nicht unbesehen beeindrucken lassen sollte. Der Affekt ist gerade im Konfliktfall immer mobilisierbar, wie schon zu Zeiten des Krim-Krieges in der britischen Presse die orthodoxe Religion als barbarisch-rückständig dämonisiert wurde. Bald galt das Zarenregiment in der Weltöffentlichkeit als „Feind der Menschheit“. Weil es der „Hort der Reaktion“ war, taten auch Marx und Engels im antirussischen Chor eifrig mit.
Zum Glück gibt es derzeit auch andere Stimmen, auch in „Libération“. Bernard Guetta, ehemaliger Moskau-Korrespondent von „Le Monde“, beginnt mit der Feststellung, Saakaschwili sei jedenfalls nicht der Alleinschuldige an diesem Konflikt, und das klingt schon maßvoller. Er warnt aber vor einer weiteren Forcierung der Nato-Perspektive für die Ukraine und Georgien - für die Glucksmann und Lévy im Frühjahr in einem offenen Brief an Angela Merkel plädiert hatten.
Die Menschenrechtsanwälte machen auf die Dauer ihre Sache lächerlich, wenn sie nicht von den Interessen reden - von denen der Vereinigten Staaten vor allem, aber auch, es ist kein Geheimnis mehr, von denen Israels. Und die Intellektuellen, zur kritischen Bestandsaufnahme verpflichtet, sollten auch die neuen Parolen aus Paris mit jener Skepsis betrachten, die ihr bestes Teil ist. Glucksmann und Lévy sind Intellektuelle, ja, durchaus. Aber aus ihrem martialischen Manifest spricht nicht die Stimme der Vernunft.
Text: F.A.Z.
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